Description
Welke Ahornblätter. Feder in Braun, Bleistift, grau laviert, weiß gehöht; verso: Skizze eines Frauenkopfes. 15,3 x 24,9 cm. Unten links eigenh. datiert "1817. den 10ten Januar". Dieses Werk erscheint uns wie ein Wunder. Sein Motiv, zwei welke Ahornblätter, die wie Präparierobjekte auf einem blaugrauen Untergrund liegen, könnte kaum beiläufiger und sachlicher sein. Fragile, hauchzarte Objekte kommen zum Vorschein, staubtrockene Relikte eines millionenfach zu beobachtenden stofflichen Übergangs, deren Aura indes sofort zu Spekulationen einlädt. Wie könnte man beim Schauen, beim „Lesen" dieser auf den Tag genau datierten Zeichnung je an ein Ende kommen? Mit welchem Geschick diese Artefakte der Natur zeichnerisch gefasst werden, ist schwindelerregend, sie zeugen von einer Meisterschaft, die spielend die Höhe der altdeutschen Graphik erreicht, und dabei doch eigene Akzente setzt. Im Winter 1816/1817 wetteifern Friedrich Olivier und Julius Schnorr von Carolsfeld in zeichnerischen Fingerübungen, in sogenannten „Federspielen", um die möglichst virtuose Bewältigung einer Aufgabe, die jedem Künstler aus dem Akademieunterricht im Landschaftsfach zur Genüge bekannt ist: Das Zeichnen von Blättern, meist nach gedruckten Vorlagen. Doch im Hause Olivier in Wien, wo sich die beiden in ihren Federkunststücken selbst zu übertreffen suchen, löst man sich rasch aus dem Schatten der Tradition. Die zehn, heute bekannten Zeichnungen, - drei stammen von Julius Schnorr, die restlichen, darunter die unsrige, werden Friedrich Olivier zugeschrieben -, haben nichts gemein mit den dekorativen Blumen- und Pflanzenstilleben, die im frühen 19. Jahrhundert dem Publikumsgeschmack entsprachen. Sie überbringen auch keinerlei Botschaft, etwa eine Vanitas-Allegorie, sie illustrieren keine Metaphorik jahreszeitlich bedingter Prozesse oder sind gar als botanische Studien in natura anzusehen, nein, diese Zeichnungen sind (mit den Worten Hinrich Sievekings) „vielmehr Virtuosenstücke von höchstem dekorativen Eigenwert"1. In ihrem Gestus, die Autonomie des Kunstwerks zu behaupten, spürt man den Puls der Moderne, und die physiognomische Vertracktheit dieser Objekte, die viele Deutungen zulässt, greift weit voraus in unsere Zeit. Oliviers technische Handhabung des an der Grenze zum Fassbaren liegenden Stoffes ist von außerordentlicher Präzision. Die beim Wiener Kreis der Nazarener zu beobachtende stilistische Orientierung an der deutschen Graphik um 1500 ist bei Olivier unverkennbar, und so dienen ihm die Stiche Schongauers und die Zeichnungen Dürers als Stimulantien der Phantasie und ihrer bildlichen Umsetzung. Doch seine Linien, so schreibt Ludwig Grote 1938, haben „nicht die stählerne Kraft der Gotik, sondern sind weich geführt, der Rhythmus des Umrisses ist kurvig und zur Binnenzeichnung ausgewogen".2 Was Hinrich Sieveking über ein motivisch gleichartiges Blatt von Schnorr von Carolsfeld genauestens beschreibt, trifft auch auf Oliviers „Welke Ahornblätter" zu: „Besser als dem lebenden Blatt lassen sich dem abgestorbenen die Strukturen der verzweigten Äderungen ablesen, die es einst mit Lebenssäften durchpulsten, ein Mikrokosmos, der nun sorgfältig zeichnerisch im Detail gebannt wurde, zuerst mit hartem spitzem Bleistift, gelegentlich mit Hilfe eines angedeuteten Rasters, die Blattumrisse und die Konturen der Äderungen, dann die feine Binnenzeichnung durch zarte Parallelschraffuren, die den jeweiligen Rundungen bis in die sich einrollenden Blattzungen an den Blatträndern folgen. Sorgfältig ist die Lichtführung beobachtet. Die höchsten Lichtpunkte bleiben ausgespart, die Schattierungen erfolgten durch Kreuzschraffuren unterschiedlicher Dichte. In einem weiteren Arbeitsgang folgte die Präzisierung mit feinster Feder, der Bleistift wurde ausradiert".3 Nicht zuletzt erscheint uns Oliviers Zeichnung auch aus einem weiteren, seinem Werk nicht unmittelbar anhaftenden Grund als wunderbar: Sie ist ein Zeugnis der Freundschaft. Seit seiner Ankunft 1814 in Wien, ist Julius Schnorr von Carolsfeld eng mit den Brüdern Friedric und Ferdinand Olivier verbunden. Die in den Wintermonaten 1816/17 entstandenen Zeichnungen welker Blätter sind von den Künstlern hochgeschätzte, gar geliebte Freundesgaben, und Schnorr bittet später darum, sie ihm nach Rom nachzusenden. Was wäre besser geeignet, das hehre Band der Freundschaft symbolisch zu besiegeln als diese Zeichnungen, die ein federleichtes Nichts in höchsten künstlerischen Ausdruck transzendieren? 1. Hinrich Sieveking in: Julius Schnorr von Carolsfeld. Zeichnungen. Ausstellungskatalog. München 1994, S. 50. 2. Ludwig Grote: Die Brüder Olivier und die deutsche Romantik. Berlin 1938, S. 147. 3. Sieveking a.a.O. - Provenienz: Aus dem Nachlass Friedrich Oliviers, danach durch Erbfolge an Dr. Marianne Schmidl (1890-1942), Wien (Urenkelin von Friedrich Olivier), bis 1941 Auktion C.G. Boerner, Leipzig, am 8. Mai 1941 Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie "Sammlung der Zeichnungen" bis 1992/93 (Lugt 1969b) Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett (mit dem Freigabestempel) 2014 an die Erben von Dr. Marianne Schmidl restituiert. - Ausstellung: New York 1989: The Romantic Spirit. German Drawings, 1780-1850, from the Nationalgalerie (Staatliche Museen, Berlin) and the Kupferstich-Kabinett (Staatliche Kunstsammlungen, Dresden). New York, The Pierpont Morgan Library, November 1988 - Januar 1989. Wien 1990: Von Caspar David Friedrich bis Adolph Menzel. Aquarelle und Zeichnungen der Romantik. Wien, Kunstforum Länderbank Wien, Januar - April 1990. - Literatur: Auktionskatalog C.G. Boerner, Leipzig: Deutsche Handzeichnungen des XIX. Jahrhunderts aus verschiedenem Besitz. Auktion 204, 8. Mai 1941, S. 30, Nr. 330 mit Abb. Tafel 36. Marianne Bernhard: Deutsche Romantik: Handzeichnungen. Band 1. München 1973, Seite 1021 mit Abb. Ausst. Kat. The Romantic Spirit. German Drawings, 1780-1850, from the Nationalgalerie (Staatliche Museen, Berlin) and the Kupferstich-Kabinett (Staatliche Kunstsammlungen, Dresden). Hrsg. von Gottfried Riemann und William W. Robinson, The Pierpont Morgan Library, New York 1988, S. 105, Nr. 70 mit Abb. Gottfried Riemann und Klaus Albrecht Schröder: Von Caspar David Friedrich bis Adoph Menzel: Aquarelle und Zeichnungen der Romantik aus der Nationalgalerie Berlin/DDR. München 1990, S. 144, Nr. 71 mit Abb.