Description
Zehn Themen. Titel, Impressum und zehn gefaltete Doppelblätter mit lithographierten Noten von Erwin Schulhoff und jeweils handkolorierten Lithographien von Otto Griebel auf handgeschöpftem holländischen Bütten. 48,5 x 64 cm (Blattgröße). Lose in Orig.-Halbleinwandmappe. Die Lithographien jeweils signiert sowie nochmals im Druckvermerk von Otto Griebel signiert, datiert, bezeichnet als "Hauptexemplar mit Sonderkolorit" sowie mit der Ortsangabe "Dresden" und mit rotem Sternsignet anstelle der Numerierung. 1920.
In der Mensa der Dresdener Kunstgewerbeschule - die Internationale Arbeiterhilfe IAH verteilte dort kostenlos warme Mahlzeiten an Arme - lernte der junge Kunststudent Griebel 1919 seine Kommilitonin, die Bankierstochter Vio Schulhoff kennen. Bei ihren Soiréen versammelten sich Maler, Dichter, Musiker und Tänzer, unter anderem Otto Dix, Lasar Segall, Theodor Däubler und natürlich auch ihr Bruder, der junge tschechische Pianist und Komponist Erwin Schulhoff, um miteinander moderne Literatur und Musik kennenzulernen und zu diskutieren. Sie beschäftigten sich mit den Schriften von Georg Trakl, Johannes R. Becher, Gustav Meyrink, Frank Wedekind, Christian Morgenstern und Carl Sternheim, mit der Musik Arnold Schönbergs, Alexander Skrjabins und Alban Bergs. Huelsenbecks Dadaistisches Manifest kursierte unter den jungen Künstlern. Otto Schulhoff stand im Briefwechsel mit George Grosz, Vio Schulhoff wurde Dix' Freundin.
In einem so inspirierenden, aufgeschlossenen Umfeld bewegte sich damals der junge Griebel. Er hatte Glasmalerei an der Kunstgewerbeschule studiert, wechselte jedoch nun zu Robert Sterl an die Akademie und arbeitete fortan neben Otto Dix in den Akademieateliers am Antonsplatz. Der völlig mittellose Künstler lebte lange Zeit von der Fürsorgeunterstützung und trat noch 1919 in die Kommunistische Partei ein. Später sollte sich sich sein Schaffen immer stärker politisieren, er wurde Mitglied der IAH, der Novembergruppe und der Gruppe „Junges Rheinland", arbeitete als Tätowierer für Seeleute, als Schnellzeichner bei KPD-Versammlungen und erreichte seinen Durchbruch nach der Teilnahme an der Dresdener Internationalen Kunstausstellung 1926.
Griebel hatte sein Ohr stets am Puls der Zeit. Er besuchte nach dem Ersten Weltkrieg jede neue Ausstellung bei Richter und Arnold in Dresden, sah Kandinsky, Klee und Beckmann, Schwitters und Feininger und zeigte sich tief beeindruckt von van Gogh. Jede neue Bewegung nahm er wahr: Expressionismus, Sezession, Kubismus, Dada, - alles wurde sofort gesehen, durchdacht, diskutiert. Seine eigene Malerei zeigte damals Einflüsse Thorn-Prikkers durch die Glasmalerei. "Meine nunmehrige Tätigkeit wandte sich gänzlich der abstrakten Formengebung in Anlehnung an das Glasmosaik zu." (Otto Griebel, Ich war ein Mann der Straße, Leipzig 1986, S. 78). Im Spätsommer 1919 hatte Griebel gemeinsam mit Pol Cassel seine erste eigene Ausstellung, im Dresdner Kunstsalon Richter. Seine kleinformatigen, abstrakten Kompositionen waren seit Kriegsende entstanden, fanden jedoch bei Kunstkritik und Publikum noch keinen Anklang. Bald darauf, Anfang 1920, besuchte Griebel gemeinsam mit Schulhoff die erste dadaistische Soirée in Dresden, eine sensationelle Veranstaltung, die wegen Überfüllung polizeilich geschlossen werden musste. Neben Richard Huelsenbeck und Raoul Hausmann wirkte auch der Berliner Oberdada Johannes Baader mit; bald kam es zu erheblichen Tumulten und schließlich zu Prügeleien zwischen Publikum und Künstlern. Griebel schreibt rückblickend: „Dada war nun bei uns Trumpf geworden, allein schon, weil wir uns darüber freuten, dass die satten Spießer sich so entsetzlich darüber ärgerten. Mit den Berlinern, vor allem mit George Grosz und John Heartfield, wurden Verbindungen geknüpft. Angeregt durch diese beiden, verließ ich die abstrakte Gestaltungsweise nun ganz und wandte mich, gleich Otto Dix, der dadaistischen, das hieß damals einer realistisch-politisch akzentuierten Kunst zu." (Otto Griebel, Ich war ein Mann der Straße, Leipzig 1986, S. 94).
In dieser Zeit der Umbrüche und des Wachsens entstand die Mappe "Zehn Themen": "Zwischen Erwin Schulhoff und mir kam es nun zu der Vereinbarung, im Dresdner Rudolf Kaemmerer-Verlag eine Mappe über zehn Musikthemen herauszubringen, zu denen ich gleich viele handkolorierte Lithographien zeichnete. Kaemmerer war auch einverstanden damit, und in nur wenigen numerierten und signierten Exemplaren wurde die Mappe veröffentlicht. Nummer eins kaufte Hugo Stinnes. Ansonsten verdienten wir nicht viel dabei, denn die Druckkosten wogen beinahe den Gewinn auf." (Otto Griebel, Ich war ein Mann der Straße, Leipzig 1986, S. 91). Die zehn Miniaturen und die zehn Lithographien wurden im Dezember 1919 fertiggestellt und erschienen 1920.
Folgende Themen enthält die Mappe:
I - sehr einfach und ruhig
II - mit Brutalität
III - einfach
IV - schnell
V - fliessend
VI - Brutal
VII - sehr fliessend
VIII - ruhige Bewegung
IX - mit Aufschwung
X - ruhig verklärt
Schulhoffs expressionistische Miniaturen entstanden unter dem Einfluss der Zweiten Wiener Schule, besonders Schönbergs. Zum ersten Mal zog er die Konsequenz, die Taktstriche in seinen Kompositionen vollständig wegzulassen, um die Ausführenden von musikalischen Gesetzmäßigkeiten und von damit verbundenen Einschränkungen ihrer Kreativität zu befreien und sie am Schöpfungsprozess der Musik teilhaben zu lassen. Es entstand "Musikalische Prosa". Die Graphiken lieferten eine visuelle Interpretation der Klänge, jeweils die Lithographien auf der linken und die Klavierpartituren auf der rechten Hälfte der Doppelseiten. Allein schon aufgrund dieser Aufgabe handelt es sich um zumeist abstrakte Kompositionen Griebels. Im Blatt VI, betitelt "Brutal" prägen Maschinenelemente die Zeichnung. Die Mappe stellt ein bedeutendes Beispiel vom Zusammenklang abstrakter Druckgraphik mit expressionistischer/dadaistischer Musik dar, in ihrer irritierenden Gesamtwirkung durchaus schon dem Dadaismus nahe. Griebels Arbeiten lassen an Johannes Molzahns Kompositionen für "Der Sturm" aus dem Jahr 1919 denken und an die Dynamik der futuristischen Bilderfindungen.
Griebels damals noch frische Begeisterung für den Kommunismus spiegelt sich in dem kleinen roten Stern, mit dem er diese Mappe als sein eigenes Exemplar kennzeichnet. Unser Exemplar erschien neben der Gesamtauflage von 15 numerierten und signierten Mappen, und zwar als Ergänzung zu der nur drei Exemplare umfassenden Ausgabe A auf handgeschöpftem Papier. Prachtvolle Drucke mit dem vollen Rand und mit ganz vorzüglich farbfrisch erhaltener Kolorierung. Teilweise etwas fleckig, einige Knickspuren und Quetschfalten vom Druck, insgesamt im rechten Rand etwas wellig, die Ränder partiell ganz leicht gebräunt sowie meist bis zu 1 cm umgeknickt und stellenweise bestoßen, selten mit kleinen Risschen, Blatt X mit kleinem Löchlein unten links, das Titelblatt mit Randeinriss rechts (ca. 4 cm), Titel und Impressum leicht angeschmutzt sowie mit deutlichen Knickspuren, sonst sehr schön erhalten. Die Mappe fleckig, wellig, der Rücken und die Umschlagklappen lädiert, die obere Klappe fehlend und insgesamt mit deutlichen Gebrauchsspuren. Das Mappenwerk von allergrößter Seltenheit, im Kunsthandel quasi unauffindbar und auch in öffentlichen Institutionen von uns weltweit nur zwei Mappen nachweisbar; das Kupferstichkabinett Berlin besitzt das Exemplar 1 der Edition A, ehemals Sammlung Heinrich Stinnes, das Lindenau-Museum Altenburg verzeichnet in seiner graphischen Sammlung ein Exemplar aus der Ausgabe B; in beiden Fällen jedoch das Kolorit deutlich weniger frisch und differenziert als in unserem Exemplar.
Provenienz: Privatsammlung Frankreich